Kevin Köhler: "…und plötzlich bist du Stuntman"

Dieter Bohlen hat Kevin Köhler bei Deutschland sucht den Superstar einst nach Hause geschickt. Prädikat „zu sehr Musical“. Heute lebt der 32-Jährige seinen Traum: Er kann auf diverse Hauptrollen in großen Musicals zurückblicken, tritt bei Galas auf und gibt Workshops für den Nachwuchs. In diesem Jahr bringt er eine eigene EP heraus, auf der man eine neue Seite an ihm kennenlernt.

Elf Jahre ist er alt, als er zum ersten Mal mit seinen Eltern im Musical Starlight Express sitzt. Irgendwo ganz hinten rechts, weil die Tickets dort günstig sind. Fasziniert von dem rasanten Spektakel auf der Bühne, der Mischung aus Gesang, Tanz und Schauspiel gepaart mit der berührenden Geschichte um die Dampflok Rusty ist für ihn klar: „Ich will auf dieser Bühne stehen.“ Fortan entwickelt sich eine beeindruckende Zielstrebigkeit, mit der der Teenager seinem Traum jeden Tag ein winziges Stückchen näher kommt. 

Zunächst geht es für ihn darum, zu singen. Egal wie, egal wo. Ob im Kinderchor, in der Schule, im Gesangsunterricht der Musikschule oder im Kirchenchor - Kevin Köhler ist überall dabei. „Obwohl ich vorher nie zur Kirche gegangen bin, war ich von da an jeden Sonntag dort und habe im Chor gesungen“, erzählt er und lächelt. Und er traut sich auf die Bühne, was ihn jedes Mal aufs Neue große Überwindung kostet. Bei der Mini-Playbackshow des Schwimmvereins in Oer-Erkenschwick steht er als 13-Jähriger in einem Kostüm, das seine Mutter und er gemeinsam gestaltet haben, zum ersten Mal als Rusty auf der Bühne. Er gewinnt. 

Sein Ehrgeiz ist geweckt. Er nimmt an so vielen Wettbewerben teil, wie nur möglich. Auch auf Stadtfesten wagt er sich ins Rampenlicht. Er hat etwas erkannt: „Irgendwann muss man sich trauen, hinauszugehen und sich zu zeigen, wenn man es wirklich will.“ Dabei wird sein Lampenfieber nicht geringer. Das ist bis heute da. Selbst bei acht großen Shows pro Woche muss er sich immer wieder überwinden, sich immer wieder selbst Ruhe vermitteln, um schließlich auf den Punkt konzentriert und präsent zu sein. Je früher man sich das antrainiert, desto besser gelingt das, davon ist er heute überzeugt. 

Nun ist das Interesse für Gesang, Tanz und Schauspiel bei Jungs im Teenager- alter nicht gerade verbreitet. Kevin Köhler hingegen nutzt wirklich jede Plattform, um sich in seiner Leidenschaft zu üben. Gibt es also im Sportunterricht den Auf- trag, ein Referat zu halten, wählt er nicht wie all die anderen Fußball als Thema, sondern leitet die Klassenkameraden im Jazzdance oder Standardtanz an. „Ich war immer der Außenseiter in der Schule“, gibt er unumwunden zu. Früh muss er sich in dieser Rolle zurechtfinden. Im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof und als einziger Junge in der Gruppe von Kids, auf die die Gleichaltrigen herabsehen. „Hinzu kam, dass ich homosexuell bin, was ich damals nicht ausgelebt habe. Aber man hat es mir nachgesagt und ich war immer der Gehänselte.“ Er lässt das an sich abprallen. Zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder heraus. „Das hat geprägt“, sagt er. Er lernt zu unterscheiden, welche Einflüsse wichtig sind und welche er besser ignoriert. Besondere Unterstützung erfährt er von seiner Mutter, die bedingungslos hinter ihm steht, aber auch von den Freunden, die ihn so akzeptieren, wie er ist. Einige Lehrer erkennen sein Potenzial ebenfalls, sodass er in der Theater AG ein ums andere Mal die Hauptrolle bekommt. Das bestärkt ihn, seinen Weg weiter zu gehen. 

Den nächsten größeren Schritt in seiner Entwicklung macht er auf einem Fan-Wettbewerb des Musicals AIDA in Essen. Hauptdarstellerin Maricel ist in der Jury. Nach dem Wettbewerb spricht sie den inzwischen 16-Jährigen an, ob sie ihm Gesangsunterricht geben dürfe. Ein Quantensprung, denn ab sofort ist er regelmäßig Backstage in Essen zu Gast und feilt unter Anleitung eines echten Profis an seiner Stimme. 

Nebenbei muss er eine etwas lästige Pflicht erledigen: eine Lehre zum gestaltungstechnischen Assistenten. Es ist eine Übereinkunft mit seiner Mutter Birgit, die gerne möchte, dass ihr Sohn eine Berufsausbildung abschließt, bevor er sich voll und ganz einer Musicalausbildung widmet. Doch Kevin Köhler möchte sich lieber heute als morgen seiner Leidenschaft widmen. Also macht er sein Abitur und die Ausbildung in der Werbeagentur parallel. „Ich dachte mir, umso schneller komme ich auf eine Musicalschule. Darauf hat sich Mama eingelassen.“ Da der Ausbildungsbetrieb in Essen ansässig ist, lassen sich die Proben mit Maricel problemlos mit dem Arbeitsalltag verbinden. 

Als sein Mentor fordert sie ihn unablässig, ermutigt ihn sogar, ohne besondere Vorkenntnisse zur Audition von Saturday Night Fever zu gehen, sich für eine Rolle in diesem Musical zu bewerben. „Ich konnte nicht einmal eine doppelte Pirouette drehen, aber ich stand zwischen all den Profis und habe es einfach gemacht“, erinnert er sich. Den Job bekommt er nicht, aber er hat seine Angst vor solchen Auswahlverfahren abgelegt und nimmt fortan regelmäßig daran teil. Auch als er sich nach abgeschlossener Lehre an der Stage School in Hamburg professionell in Tanz, Gesang und Schauspiel ausbilden lässt, bleibt er am Ball. So bekommt er bereits im dritten Jahr auf der Stage School seine erste Rolle im Tanz der Vampire. Die Ausbildung abzubrechen ist für ihn keine Option. Er möchte beides unter einen Hut bringen und beginnt, zwischen Hamburg und Berlin zu pendeln. Ein ambitionierter Spagat, der sich auszahlt. „Was ich auf der Bühne gelernt habe, konnte mir keine Schule beibringen“, betont Kevin Köhler.

Doch damit nicht genug. Sein Mitbewohner Kiko entdeckt ein Inserat des ZDF, in dem eine Casting-Show für Musicals ausgeschrieben wird. Köhler wiegelt ab. Schon einmal hat er vor einer Jury gestanden. Bei „Deutschland sucht den Superstar“ ist er im Alter von 16 Jahren in die zweite Runde gekommen. Dieter Bohlen sagte damals: „Du bist zu sehr Musical, das wollen wir nicht“. Ausgestrahlt wurde diese Szene nie, aber für Kevin Köhler steht fest, sich nie wieder in einer Casting-Show zu bewerben. Dann aber ruft eine Freundin an, der die Anzeige des TV-Senders ebenfalls aufgefallen ist. Und schließlich bringt der Mitbewohner den ausgedruckten Bewerbungsbogen einfach mit nach Hause. Gemeinsam gehen sie Frage für Frage durch, ohne einen Anhaltspunkt zu haben, auf was der Wettbewerb abzielt. Bis sie auf die entscheidende Frage stoßen: Können Sie Rollschuh laufen - ja oder nein? „Ab da wurde es interessant“, sagt Kevin Köhler strahlend. Natürlich vergisst er nicht, in dem Formular zu erwähnen, dass seine Traumrolle die des Rusty in Starlight Express ist. Er wird eingeladen und setzt sich in der von Thomas Gottschalk moderierten Show Runde für Runde durch. 

Ab Runde zwei lässt er sich von einem Agenten unterstützen, um die logistischen Abläufe zwischen der Stage School, den Auftritten in Berlin und der Casting-Show in Köln zu bewältigen. Seine Wochen sind streng durchgetaktet. „Wenn ich im Flieger eingenickt bin, wusste ich oft bei der Landung gar nicht mehr, wo ich war“, beschreibt er. Mit Unterstützung bewerkstelligt er das. Ab dieser Phase des Wettbewerbs ist außerdem klar, um was es geht: die Hauptrollen in Starlight Express. Größer hätte der Ansporn kaum sein können.

Als Kevin Köhler in die Top Ten der Show vorstößt, kommt Rollschuhtraining in Bochum mit auf seine Agenda. Denn die Gewinner sollen kurze Zeit nach dem Finale bereits auf der Bühne stehen. Der Rest ist Geschichte: Kevin Köhler gewinnt „Musical Showstar 2008“ und wird die erste deutsche Erstbesetzung der Lokomotive Rusty in seinem Lieblingsmusical Starlight Express. 

Dieser Erfolg ist zugleich die Geschichte einer zweiten Chance, vielleicht sogar von Schicksal. Denn bereits zuvor hatte sich der heute 32-Jährige auf der Stage School zu einem Casting für Starlight Express angemeldet. Doch er ist nie hingegangen. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er sich entmutigen lassen. Von den anderen, die sagten, es sei sehr schwierig, sich für das Musical zu qualifizieren. Es komme vorwiegend auf Tanz an. Tanz ist nicht seine liebste Disziplin. Er hat sich nie intensiv mit Ballett auseinandergesetzt oder mit Jazzdance. Seine Ballettlehrerin gibt ihm die Note zwei für den Schweiß, nicht für die Performance. Stark fühlt er sich eher in Gesang und Schauspiel. „Ich stand vor dem Casting-Raum und habe mich nicht getraut, hineinzugehen“, erinnert er sich. „Ich dachte, alle um mich herum sind Profis, ich habe eh keine Chance.“ Nun ist es  ihm auf anderem Wege gelungen, seinen Kindheitstraum zu verwirklichen. Ohne es zu wissen, hat er Woche für Woche die Starlight-Jury überzeugt, die inkognito im Publikum der ZDF-Show saß. Es sollte wohl so sein. 

Dabei ist es keineswegs einfach, sich auf der Bühne von Deutschlands ältestem Musical zu behaupten. Denn zu den drei klassischen Disziplinen kommt auch noch das Rollschuhlaufen dazu. „Du konzentrierst dich auf Tanz, Gesang und Schauspiel. Und auf einmal bist du Stuntman“, erinnert sich Köhler an die Proben, in denen es auch darum geht, sich bei einem etwaigen Sturz so abzurollen, dass man keine schlimmeren Blessuren davonträgt. Doch Herausforderungen schrecken den aufstrebenden Musical-Künstler nicht ab. Beim Glöckner von Notre Dame etwa lernt er zehn verschiedene Rollen und bekommt jeweils morgens mitgeteilt, welchen Charakter er abends spielt. An einem Tag ist er Quasimodo, am nächsten der Zigeunerkönig Clopin. Es ist schwierig, aber er betritt die Bühne und lässt sich darauf ein. „Wenn das Publikum mitgeht, entsteht eine besondere Energie. Du fällst da hinein, egal was du gerade spielst. Das ist das Großartigste an meinem Job“, sagt er. Er hat das Glück, vor allem in Großproduktionen zu spielen, die die Säle füllen. 

Egal, in welchen Städten er durch seinen Beruf zeitweise lebt, seine Heimat bleibt das Ruhrgebiet. Im Kreis Recklinghausen ist er tief verwurzelt. Hier leben seine Familie und Freunde, hier fühlt er sich zu Hause. Hier reift auch der Entschluss, etwas Neues zu wagen, die vertrauten Abläufe zu durchbrechen. Aktuell arbeitet Kevin Köhler an einer eigenen EP, seinem bisher größten Projekt. Schon immer ist es ihm wichtig, etwas Eigenes nebenbei zu machen. So nimmt er regelmäßig Songs auf, die er bei Youtube hochlädt. Zudem leitet er Workshops, um junge Menschen zu unterstützen, ist zu Gast bei Galas. Und er hat bereits eine EP mit Songs im Musical-Stil zusammen mit einem Komponisten aus London auf- genommen, doch das neue Projekt ist anders. 

Bei einem Musical-Workshop für Thomas Hermanns vom Quatsch-Comedy-Club sieht ihn die Berliner Songwriterin Bettina Meske, die Lieder für ihn schreiben möchte. Es entwickelt sich eine äußerst produktive Zusammenarbeit. Köhler be- schreibt ihr, was er mit der Musik erzählen möchte, welche Bilder eine Rolle spielen sollen, und sie kleidet dies in Musik. „Es ist wie so oft: je beschissener die Lebensphase, desto besser die Kunst“, lacht er. Denn seine EP handelt von Trennung, von den tiefen Kratern, die der Schmerz in der Seele hinterlässt. Wer auf die vertrauten Musical-Klänge wartet, tut dies vergebens. So wandelbar wie Kevin Köhler auf der Bühne ist, so ist er es auch in seiner Musik. Produzent Diggi Burr aus Essen hat den Titeln den letzten Schliff verliehen. Entstanden sind raue Klänge, eingängiger Pop - komprimiert auf neun Titel, die er im Herbst herausbringen wird. Seine Single „Crater“ steht hingegen seit Juli 2019 zum Download bereit. Das zugehörige Video ist ebenfalls abgedreht. 

Auch hier wird man den Künstler anders erleben, als man es bislang gewohnt war. Auf der EP geht er völlig offen, wie kaum ein zweiter deutscher Interpret, mit seiner Homosexualität um, vermittelt seine persönliche Geschichte so, wie er sie erlebt hat. Dahinter steht keine Plattenfirma, alles geschieht in Eigenregie. „Mir war wichtig, ohne irgendwelche Einflüsse genau das zu erzählen, was ich erzählen will, und genau so, wie ich es will“, erklärt Köhler. Seit Anfang Februar, dem Ende seines Parts beim Glöckner von Notre Dame also, konzentriert er sich ausschließlich auf dieses Projekt. Wie es danach weitergeht, ist noch offen. Findet sein Pop-Exkurs Anklang, kann er sich durchaus vorstellen, seine künstlerischen Spuren auch auf diesem Gebiet zu hinter- lassen. Eine spannende neue Herausforderung und ein weites Feld für seine nicht enden wollende Kreativität. 

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