Mit Anfang zwanzig ist Andreas Niedrig heroinsüchtig. Dank einer unvorstellbaren Willenskraft gelingt es ihm, sein Leben von Grund auf zu ändern. Gegen alle Widerstände wird er zu einem der weltbesten Triathleten, überwindet Rückschläge, wird Buchautor, Filmproduzent und arbeitet heute als Speaker. Seit seine persönliche Geschichte Anfang 2000 im Buch „Vom Junkie zum Ironman“ veröffentlicht wurde, steht der Triathlet in der Öffentlichkeit. Das tut er leidenschaftlich gerne, denn auf diese Weise möchte er weiter- geben, dass mit einem ausgeprägten Willen nahezu alle Ziele realisierbar sind.
Andreas, auf Social Media hast du den Grubenhelden gemeinsam mit dem Olympiazweiten im Zehnkampf von 1996, Frank Busemann, eine Videobotschaft nach New York gesendet. Wie kam es dazu?
Frank kommt wie ich aus dem Ruhrgebiet. Teilweise hatten wir die gleichen Trainingsstätten und haben uns darüber kennenge- lernt. Im Zehnkampf war er sehr erfolgreich und wurde für mich ein großes Vorbild. Nun hatte er mich gebeten, mit ihm ein Lehrvideo zum Thema Schwimmen aufzunehmen. Zehnkämpfer zu sein, bedeutet nicht unbedingt, auch gut schwimmen zu können (lacht). Also haben wir uns im Schwimmbad getroffen. Ich habe ihn gefragt, ob er die Grubenhelden kennt. Er hatte bereits davon gehört, kannte den Hintergrund aber nicht genau. Ich habe ihm das T-Shirt „Consol“ gezeigt, geschildert, dass das Modelabel gerade auf der New York Fashion Week ist, und dann war er sofort dabei. Natürlich konnte er sofort mit dem Grubenhemd-Stoff etwas anfangen und fand die Idee richtig gut.
Was verbindet dich persönlich mit dem Bergbau?
Meine gesamte Kindheit hat sich um die Zeche meiner Heimatstadt Oer-Erkenschwick gedreht. Mein Opa war als Steiger auf dem Pütt, mein Papa hat dort ebenfalls seine Ausbildung zum Elektriker gemacht. Als Kind war es für mich ein schönes Ritual, nach der Schule zu meiner Oma zu gehen.
Wie man es aus alten Ruhrgebietsgeschichten kennt, saß sie meistens mit ihrem Kissen am Fenster und wir haben uns von der Straße zum Fenster unterhalten. Sie hat mir mitgeteilt, wann die Schicht meines Opas an dem jeweiligen Tag endete und ich bin die 500 Meter von ihrem Haus zur Zeche Ewald in Oer-Erkenschwick gelaufen, die direkt im Mittelpunkt unserer Stadt stand, um ihn abzuholen. Häufig ging er mit seinen Kollegen noch zum Kiosk, um gemeinsam ein Feierabend-Bier zu trinken. Ich habe ein paar Pfennige bekommen und durfte mir Klümpchen kaufen. Das war ein echtes Highlight für mich. Übrigens waren alle nach ihrer Schicht zwar sauber, hatten aber die typischen schwarzen Ränder vom Kohlenstaub unter den Augen, was ich nie vergessen werde.
In unserer Stadt gab es außerdem einen Zug, der die heiße, frisch geförderte Kohle rausfuhr, damit diese abkühlen konnte. Als Kinder sind wir immer wieder auf die Züge gesprungen, weil diese nur in Schrittgeschwindigkeit gefahren sind. Manchmal haben wir auch einen Pfennig auf die Schienen gelegt, der dann plattgedrückt wurde. Die ganze Kindheit hat sich um den Pütt gedreht. Wenn es bei uns geschneit hat, war der Schnee in der Luft weiß, als er auf den Boden gefallen ist, war er schwarz. Meine Oma hat die Gardinen gewaschen und geschimpft, weil sie nach einer Woche wieder voller Kohlenstaub waren. Wärme im Haus gab es durch Kohleöfen. Die ganze Region, die Industrie und damit unser gesamtes Land hat von dem Steinkohlebergbau profitiert - von den Menschen, die einfach bereit waren, zu malochen.
Und was schätzt du an Grubenhelden?
Mein Opa hat immer gesagt: „Unter Tage waren alle gleich. Wenn wir nicht zusammengearbeitet hätten, wären wir zusammen untergegangen.“ Außerdem kamen zahlreiche Gastarbeiter nach Deutschland, um hier zu arbeiten und unser Land zu dem zu machen was es heute ist. Und es hat funktioniert! Niemand hat großartig nach dem Herkunftsland gefragt und es gab keinerlei Integrationsprobleme. Alle waren füreinander da. Und die Geschichte des Ruhrgebiets, von Zusammenhalt und Werten ist die Geschichte der Grubenhelden und das ist für mich ein sehr wertvoller Beitrag, unsere Vergangenheit nicht zu vergessen, und vor allem auch stolz auf das zu sein, was einmal war.
Auf deiner Autogrammkarte und deinem Fahrrad findet sich ein Förderturm. Was symbolisiert er für dich?
Er steht für Heimat und damit ein Stück weit für Sicherheit. Insofern sind die Grubenhelden ein regelrechtes Geschenk für mich. Ich muss nichts inszenieren, wenn ich mein Schlüsselband irgendwo auf den Tisch lege. Ich sehe den Stoff, aus dem die Hemden der Bergleute geschneidert wurden, und kann darüber direkt in meine Geschichte einsteigen. Egal, wo ich bin - in Baden-Baden oder München. Das ist ein Stück Heimat, ein Gefühl von Verbundenheit.
Wie lange dauert eigentlich eine klassische Triathlon-Karriere?
Das ist sehr unterschiedlich, aber zwanzig Jahre Profisport kommen wohl nicht so häufig vor (grinst). Wobei es bei mir natürlich Höhen und Tiefen gab, lange Unterbrechungen wegen Verletzungen zum Beispiel. Aber ich habe es, glaube ich, schon sehr ausgereizt. Mein Sport war ein riesiges Geschenk, wie auch meine Lebensgeschichte. Ich konnte reisen, andere Kulturen kennen lernen und mit Menschen zusammen sein, die in ihrem Leben klare Ziele verfolgt haben.
Warum hast du diese Strapazen auf dich genommen?
Naja, ich hatte bereits einige Male aufgehört. 2003 zum Beispiel. In diesem Jahr hatte ich ohnehin vor, mich umzuorientieren. Damals war ich 36 Jahre alt und damit eigentlich zu alt für den Triathlon-Sport als Profi. Mein Buch „Vom Junkie zum Ironman“ war drei Jahre auf dem Markt und dadurch erreichten mich immer mehr Anfragen, als Referent im Bereich Prävention von meinen Erfahrungen zu berichten. Mein Traum war es also, bei der WM auf Ibiza als Weltmeister meine Karriere zu be- enden. Drei Wochen vor dem Wettkampf hatte ich Probleme mit der Achillessehne. Ursache war eine Entzündung, aufgrund derer ich mich operieren lassen musste. Dabei kam es zum Super-GAU: Die Sehne wurde versehentlich von meiner Ferse abgelöst und ich lag mit Unterbrechungen zwei Jahre im Krankenhaus, musste neunmal nachoperiert werden. Drei Jahre lang war überhaupt nicht mehr an Sport zu denken. Die Ärzte haben mir prognostiziert, ich könne nie wieder Sport betreiben.
Wie bist du mit der Situation umgegangen?
Zu dem Zeitpunkt stellte sich für mich die Frage, was ich nun aus meinem Leben machen wollte. Fest stand, dass ich nicht mehr wie bisher als Orthopädiemechaniker arbeiten wollte. Ich wollte meine Selbstständigkeit nicht verlieren, wusste allerdings nicht, wie ich das umsetzen sollte. 2006 habe ich mich dann entschlossen, mein Buch noch einmal neu zu schreiben. Mit einem größeren Verlag wurde es wieder ein Bestseller und bis 2007 habe ich keinen Leistungssport gemacht, sondern mich auf das Buch konzentriert. 2008 wurde es sogar verfilmt, sodass ganz andere Themen im Fokus standen. 2009 ist es mir gelungen, mich noch einmal als Profi für die Ironman-Weltmeisterschaft auf Hawaii zu qualifizieren, was eigentlich undenkbar war. Beim Rennen war ich mit elfeinhalb Stunden sehr lange unterwegs, bin 881. geworden. Es sollte zu dem Zeitpunkt mein letztes Rennen sein, da ich wieder einmal ein neues Ziel hatte, einen eigenen Kinofilm produzieren: „Traumwärts“, der dann auch mit Hilfe meiner Freunde ein aus unserer Sicht erfolgreicher Film wurde. Inhaltlich sollte der Film zeigen, wie ich das Leben sehe. Dass dir jeden Tag Türen geöffnet werden, dass du jeden Tag spannende Menschen kennen- lernen kannst, die für eine Sache brennen - so wie ich auch Matthias Bohm von den Grubenhelden kennengelernt habe. Also habe ich mich von 2009 bis 2012 um das Filmprojekt gekümmert.
Dem Leistungssport abgeschworen hattest du aber noch immer nicht...
Nein, denn 2012 habe ich aus Spaß in Roth bei der Deutschen Meisterschaft im Langstreckentriathlon teilgenommen. Ich bin in meiner Altersklasse direkt Erster geworden, obwohl ich drei Jahre lang keine Wettkampfpraxis mehr hatte. Da habe ich gesehen, dass noch Potenzial in mir schlummerte und habe 2013 im Alter von 46 Jahren wieder den Profipass gelöst. Aufgrund meines Alters haben mich alle anderen Profis für verrückt erklärt, aber 2015 und 2016 hatte ich zwei richtig gute Saisons, ohne dass ich jedoch die jungen Athleten ernsthaft gefährden konnte. Aber für mich war es eine riesige Zugabe, mit viel Verzicht und Quälerei, aber nun ist es vorbei und das ist auch gut so.
Jetzt befindest du dich in einer spannenden Phase, dem Übergang von deiner aktiven Karriere als Leistungssportler in die Zeit danach. Welche Herausforderungen bringt das mit sich?
Da ich nun vermehrt als Referent tätig bin und bereits in den vergangenen Jahren immer wieder Vorträge gehalten habe, ist es ja ein eher schleichender Prozess gewesen, kein plötzlicher Einschnitt. Die Herausforderung in meinem neuen Leben besteht darin, mir die Freude zu bewahren an dem, was ich tue. Die Dinge jedes Mal so umzusetzen, als würde ich sie zum ersten Mal tun, als wären sie keine Routine. Neben meinen kommerziellen Veranstaltungen liegen mir meine sozialen Projekte sehr am Herzen, hier kann ich meine Erfahrungen, sowie mein Erlebtes nutzen um mich für unsere Gesellschaft zu engagieren.
Welche Themen, Projekte oder Ideen deckst du bei deinen Veranstaltungen ab?
Im Bereich Motivation geht es um konkrete Zielsetzungen, Umstrukturierungen und Change-Management. Große Konzerne müssen umdenken, um nicht von Unter- nehmen aus dem Ausland geschluckt zu werden. Viele stoßen in digitale, nicht wirklich greifbare Bereiche vor. Damit die Belegschaft diese Neuerungen mitträgt, ist es wichtig, die Unternehmensphilosophie so herunterzubrechen, dass alle Mitarbeiter Ziele für sich ableiten können. Mit meinen Vorträgen und Unternehmensfilmen verdeutliche ich, dass die Zeit für Veränderungen angebrochen ist. Sport dient mir dabei als eine emotionale und greifbare Metapher – mit einem Start, einer Strecke und einem Ziel. Als externer Referent darf ich meinen Zuhörern einiges abverlangen und darf Themenbereiche ansprechen, ohne dass sie sich auf den Schlips getreten fühlen. Auf der anderen Seite ist die Jugendarbeit das, was mir am Herzen liegt. Die zahlreichen Anfragen, die mich von Schulen erreichen, kann ich bei weitem nicht mehr bewältigen. Zudem werde ich sehr häufig von Schließern aus Gefängnissen angeschrieben. Aus einem solchen Kontakt ist beispielsweise ein Marathon-Laufprojekt entstanden, in dem es um aktive Resozialisierung geht. Mir ist es wichtig, den Inhaftierten das Gefühl zu geben, dass sie nicht vergessen werden und dass sie eine Chance verdient haben. Auf der anderen Seite möchte ich auch den Menschen, die im Gefängnis arbeiten, Wertschätzung entgegenbringen.
Was für Rückmeldungen erhältst du aus dem Publikum?
Sehr positive. Ich denke, meine Vorträge kommen gut an, weil ich das, was ich vermitteln möchte, selbst gelebt habe. Meine Geschichte verliert offenbar nicht an Aktualität, weil ich mich in den unterschiedlichen Lebenssituationen immer wieder neu erfinde, motiviere und immer wieder aufstehe. Dabei vergesse ich nie, mich mit der Zeit und den immer wieder neuen Herausforderungen auch mitzuentwickeln. Daher habe ich auch den Begriff „Willensschaffer“ geprägt. Ich habe hinterfragt, welche Kompetenzen ich mitbringe. Alles, was ich in meinem Leben erreicht habe, habe ich durch meinen Willen geschafft. Ich bin weder Buchautor noch Filmproduzent. Trotzdem ist es mir gelungen, ein Buch zu schreiben und Filme zu produzieren. Es ist also völlig egal, was du bist. Entscheidend ist, was du sein willst. Wir Menschen wollen so vieles sein, haben allerdings oft Angst den einen entscheidenden Schritt in eine neue Richtung zu gehen. Es kommen so viele Fragen, auf die wir keine Antwort haben. Ist es die richtige Entscheidung? Kann ich es schaffen? Und, und, und. Gehen Menschen diesen Schritt, scheitern leider viele, wenn es schwierig wird. Sie stellen sich dann die Fragen wie: „Warum passiert es immer nur mir?“ Oder: „Warum schaffen es alle anderen, nur ich nicht?“ Und dann hören sie auf, an ihrem Ziel festzuhalten. Dadurch entsteht die Problematik, dass sie unerfüllt durchs Leben gehen. Ziele erreichen zu wollen bedeutet viel mehr, als sich eine fixe Idee in den Kopf zu setzen. Es bedeutet, sich bewusst zu machen, dass der Weg zum Ziel oft mit viel Arbeit, Verzicht und Ausdauer verbunden ist. Dieses Prinzip lässt sich auf alles übertragen - ob aufs Management, die Fußball-Bundesliga, unser Privatleben, Schulen oder auch Gefängnisse.
Ist das Prinzip denn wirklich so leicht anwendbar, wie es klingt?
Ich will nicht vermitteln, dass im Leben alles ganz einfach ist und man es nur tun muss. Das Leben ist nicht einfach und das macht es ja gerade spannend. Wenn du hoch hinaus willst, wird die Luft nach oben hin immer dünner. Je mehr du wirtschaftlich erreichen möchtest, desto mehr Menschen sind neidisch und wollen dir Steine in den Weg legen. Die großen Ziele wirst du nur dann erreichen, wenn du bereit bist, zu arbeiten, hart zu arbeiten, permanent hin- zufallen und immer wieder aufzustehen. Das will ich mit Leidenschaft und Authentizität vermitteln, weil ich es vom ersten Tag nach meiner Drogenabhängigkeit an immer wieder aufs Neue selbst beweisen musste. Das ist zwar anstrengend, macht mir aber total viel Spaß und heute sehe ich, was ich dadurch erreicht habe und welche Anerkennung ich erfahre. Das möchte ich so vielen Menschen wie möglich zugänglich machen. Ich will zeigen, dass es sich lohnt, im Leben nicht gleichgültig zu sein.
Bei dir hat sich das ausgezahlt. Was hat dich angetrieben oder treibt dich noch heute an?
Bei mir war und ist es natürlich schon eine spezielle Situation. Denn man hat nicht ganz so oft im Leben die Chance, in einer bestimmten Disziplin zu den Besten zu gehören. Für mich war das natürlich das Besondere in meinen Sport, den ich so liebe und bei dem ich bis heute mit Herzblut dabei bin, auch wenn ich inzwischen nicht mehr als Profi starte. Aber es ist ein erstrebenswertes Ziel, im Leben in einer Sache so richtig gut zu werden. Meine Riesenchance ist es nun, auch als Speaker einer der Besten zu werden, denn auch diese Aufgabe erfüllt mich sehr und bereitet mir große Freude. Dann hätte ich es in zwei Bereichen, die mir am Herzen liegen, geschafft, mich sehr erfolgreich weiterzuentwickeln. Für mich persönlich ist es eine Riesenchance, dieses Gefühl, zu den Besten zu gehören, in einem anderen Bereich außerhalb des Sports nochmal leben zu dürfen. Und danach strebe ich.
Welche Ziele hast du dir persönlich für 2019 gesetzt?
Zum einen habe ich sportlich noch ein bisschen was vor. Von meinem Radsponsor Trek wurde ich eingeladen, am Ötztal-Radmarathon teilzunehmen. Das sind 238 Kilometer auf 5500 Höhenmeter. Im Ruhrgebiet ist das nicht ganz einfach zu trainieren, weswegen ich momentan die Halde Hohe- wart, die rund 100 Höhenmeter hat, rauf und runter fahre. Zudem möchte ich meine Position als Speaker stärken und Unternehmen meinen Namen näherbringen, die mich bis heute noch nicht kennen. Darüber hinaus gibt es die Idee eines Fernsehformats, die an mich herangetragen wurde – ein neues Buch schreibe ich gerade und es gibt noch viele weitere Gedanken, die sich 2019 zu klaren Zielen verfestigen sollen. Und dann kommen noch tagtäglich diverse verrückte Ideen dazu, die zu fast 100% nicht umsetzbar sind. Aber manchmal ist dann doch die eine oder andere Idee dabei, die zu einem klaren Ziel wird und nicht nur mein Leben ordentlich durcheinander wirbelt - und dafür ist „Mann“ doch nie zu alt, oder?