Man braucht den Tiger im Herzen

Mehr als 44.000 Kilometer ist Christian Keller in seinem Sportlerleben geschwommen. Dafür belohnte der Schwimmer sich in den 1990er Jahren unter anderem mit einer olympischen Bronzemedaille und dem Weltmeistertitel. Heute spult der 48-Jährige noch immer ein straffes Programm ab: In der Freizeit beim Triathlon, in seinem leitenden Job bei der Privatbank ODDO BHF und als TV-Experte fürs ZDF. Im Haldeninterview auf der Zeche Zollverein in seiner Heimatstadt Essen spricht Keller über den Umgang mit Herausforderungen.

 

 

Christian Keller, 2020 ist ein außergewöhnliches Jahr, das uns alle mit noch nie dagewesenen Situationen konfrontiert. Was waren deine größten Herausforderungen in der Zeit?

Das Jahr war für mich und meine Familie komplett herausfordernd. Dadurch, dass ich drei Kinder und einen verantwortungsvollen Job in leitender Funktion bei einer Privatbank habe, habe ich versucht, mich bestmöglich vor dem Coronavirus zu schützen und habe dementsprechend viel aus dem Homeoffice gearbeitet. In diesem Zuge war es für meine Frau Annika und mich ein Riesenspagat, logistisch mit den Kindern alles hinzubekommen – mit Notfallbetreuung, Schulschließung, Kindergartenschließung... Du warst im Prinzip nur damit beschäftigt, den Tagesablauf zu organisieren, dich und die Familie zu schützen. Man hat sich ein Stück weit isoliert. Dadurch ist die Familie noch stärker zusammengewachsen.

Als Schwimmer musstest du häufig Herausforderungen meistern. Welche haben sich bei dir besonders eingeprägt?
1993 bin ich Weltmeister geworden. Damals war meine Karriere gerade einmal fünf Jahre alt. Da merkt man erst einmal, wie schwierig es ist, dort zu bleiben – es scheint, als wäre der Weg nach oben einfacher. Denn wenn du einmal einen großen Titel errungen hast, schaut jeder auf dich und du hast automatisch die Favoritenrolle bei jedem Wettkampf als Rucksack mit dabei. Das fand ich persönlich positiv herausfordernd. Wenn ich meine 16 Jahre ohne Unterbrechung in der Schwimm-Nationalmannschaft betrachte, war diese Zeit sicherlich auch mit vielen Herausforderungen verbunden. Du musst deinen Tagesablauf perfekt organisieren, zu Beginn mit Schule und Sport, später mit Beruf und Sport. 1992 habe ich das Abitur abgeschlossen und mich eine Woche später für die Olympischen Spiele qualifiziert. Themen wie Dopingkontrolle, Sponsoren, Freundin, Familie und Presse kamen hinzu – dieser ganze Druck, den man hat. Ich hatte nie einen Manager, war aber immer drauf erpicht, zu wissen, was mit meinem Namen, mit meiner Vermarktung und meinen Möglichkeiten passiert. Das hat Ressourcen gekostet, aber ich hatte bedingungslose Unterstützung durch meine Eltern. Ich glaube, ich war in der Schwimm-Nationalmannschaft der einzige 28-jährige Arbeitnehmer, der noch zu Hause gewohnt hat – allerdings in einer eigenen Wohnung. Insofern konnte ich mich mit meinem Trainer Horst Melzer auf die Wettkämpfe und auf das Training konzentrieren.

Was war die schwierigste Situation, mit der du umgehen musstest?
Ich hatte 1997 einen Anlauf mit einem Manager gewagt, der mich vermarkten sollte. Da habe ich eine Bruchlandung erlebt, die sogar in einem Gerichtsverfahren mündete. Einen Prozess zu führen ist neben all diesen anderen Dingen schwierig und herausfordernd. Insofern war das eine sehr negative, aber auch eine sehr wertvolle Erfahrung. Und was man auch nicht vergessen darf: Man versucht ja immer, die emotionale Balance hinzubekommen – auf der einen Seite seinen Sport auszuüben, auf der anderen Seite aber auch mal eine Freundin zu haben. Eine relativ lange Beziehung ist letztlich aufgrund meiner sehr eingeschränkten zeitlichen Ressourcen zu Ende gegangen. Da hatte ich sehr dran zu knabbern und dann ist auch der eine oder andere Wettkampf nicht so gut gelaufen. Es war auch schwierig, meine Freunde zu sehen. Mit der Disziplin und dieser Fokussierung, nicht Fünfe gerade sein zu lassen, sondern jeden Morgen um 5.15 Uhr aufzustehen, um vor der Schule oder vor der Arbeit zu trainieren, kommen ganz wenige Menschen klar. Um 21.21 Uhr war Bettruhe angesagt. Daran sind viele Beziehungen kaputt gegangen.

Gibt es im Positiven ein besonderes Highlight, das du herausheben würdest?
Insgesamt machen mich die gut 16 Jahre von 1988 bis Anfang 2005 stolz. In diesem Zeitraum habe ich fast alle internationalen Ereignisse mitgemacht, bin Aktivensprecher gewesen und darüber zu meiner Tätigkeit als ZDF-Experte gekommen. Möchte man einen Einzelerfolg herausstellen, dann ist das sicherlich die Bronzemedaille bei Olympia mit der 4 x 200 Meter Freistilstaffel 1996 in den USA in Atlanta. Das war ein riesiges Highlight. Außerdem war die Schwimm-WM in Barcelona 2003 ein emotionaler Erfolg. Mit der Kraulstaffel haben wir dort Bronze gewonnen. Australien mit Ian Thorpe und die Amerikaner mit Michael Phelps waren unschlagbar und danach galten die Italiener als Favorit auf Platz 3. Durch einen unfassbaren Teamspirit haben wir es geschafft, uns durchzusetzen. Auch mein Karriereende war positiv. In Essen gab es das noch nie, dass ein Sportler im Ratssaal der Stadt verabschiedet wurde. Dr. Reininger, damals Oberbürgermeister der Stadt Essen, Thomas Kufen, der Vorsitzende der Jungen Union, der ja heute Oberbürgermeister ist, waren unter anderem im Rathaus dabei. Insgesamt sind 400 Menschen gekommen, um mich zu verabschieden. Dass mir so eine Ehre zuteil wurde, hat mich sehr stolz gemacht.

Wie schwer fiel es dir, deine Karriere 2004 zu beenden?
Überhaupt nicht, denn ich hatte ja immer einen dualen Karriereweg. Zum Ende hin war ich echt müde, was den Sport anbelangte. Während meiner Karriere bin ich mehr als 44.000 Kilometer geschwommen – zum Vergleich: Der Äquator hat eine Länge von 40.075 Kilometern. Das heißt, ich habe in meinem Leben einmal die Welt umrundet, aber nicht irgendwie, sondern mit vielen intensiven Serien, die mit Entbehrungen und Schmerzen verbunden waren. Insofern war ich mental nicht mehr in der Lage, diese Schmerzen zu ertragen, um mich noch mal zu verbessern. Außerdem hatte ich eine neue berufliche Herausforderung bei einer Privatbank und darauf wollte ich mich fokussieren.

Irgendwann hast du die Badehose aus- und den Anzug angezogen. Dein Weg aus dem Schwimmbecken in eine Bank – wie war das?
1993 habe ich in Essen eine Ausbildungbei der Deutschen Bank gemacht, weilmich Geld schon immer interessiert hat.Zwölf Jahre lang habe ich versucht, alsschwimmender Banker beides in Einklang zu bringen. Natürlich war das eineDoppelbelastung, aber mir war auchimmer klar, dass es ein Leben nach demSport geben würde. Der Wechsel in dieFinanzbranche ist mir am Ende leichtergefallen, als ich dachte. Wahrscheinlich,weil mich im Sport einige Eigenschaftenvorangebracht haben, die mir jetzt wieder zugute kommen: Fleiß, Disziplin, dieLeidenschaft, für meine Kunden besteLeistungen zu erbringen, und auch einegewisse Bescheidenheit.

Wie hast du deine Leidenschaft fürs Schwimmen entdeckt?
Eigentlich ist es Zufall gewesen. Ichkomme aus sehr bescheidenen Verhältnissen und mein Vater ist sehr froh, dassich zu einem Schwimmverein gegangenbin. So konnte er Wasserkosten sparen(lacht). Meine beiden Geschwister, dieauch schon in dem Schwimmverein aktivwaren, waren bereits in einer Talentsichtungsgruppe im Werdener Turnerbund.Beide haben ein gewisses Talent mitgebracht. Da ich bereits im Alter von fünfJahren sehr umtriebig war und ein hohesEnergielevel hatte, war meine Mutterfroh, als Trainer Willi Löbbert fragte, obsie noch ein weiteres Kind habe, dassie mit zum Training bringen könne. Inden Anfängen habe ich dort einmal dieWoche trainiert, habe aber auch nochFußball gespielt und Leichtathletik gemacht. Erst durch meinen ersten großenErfolg im Alter von 15 Jahren, als ichgleich dreimal deutscher Jugendmeistergeworden bin, habe ich mich auf dasSchwimmen fixiert.

Als du Weltmeister wurdest, warst du 21 Jahre alt. Wie hast du es empfunden, als junger Mensch eine gewisse Berühmtheit zu erlangen?
Das war schon Wahnsinn. Ich wurde praktisch über Nacht regional bekannt. Damals gab es noch kein Internet, die Welt war ganz anders als heute. Daher würde ich nicht sagen, dass ich prominent oder ein Star war. Der Fokus war regionaler. Aber ich wurde schon auf der Straße angesprochen und habe es damals genossen, bekannt zu werden.

Mit 16 Jahren in der Nationalmannschaft hältst du einen alleinigen Rekord. Was hat dich zu solch
einer konstant starken Leistung angetrieben?

Es war die intrinsische Motivation, zu schauen, was ich aus meinem Körper herausholen konnte. Allerdings hatte ich schon nach den Olympischen Spielen in Sydney 2000 überlegt, meine Karriere zu beenden. Das waren die tollsten Olympischen Spiele überhaupt. Damals war ich 28 Jahre alt, hatte dreimal an Olympia teilgenommen und merkte schon ein bisschen die Müdigkeit. Ich habe mich mit Sandra Völker ausgetauscht, die ebenfalls eine sehr erfolgreiche deutsche Schwimmerin war. Sie sagte mir, dass sie noch vier Jahre weitermacht. Also habe ich überlegt, auch noch mal vier Jahre dranzuhängen, habe mit meinen Sponsoren gesprochen, die sich ebenfalls vorstellen konnten, mich weiter zu begleiten.

Bereits als Aktiver bist du über Sport und Beruf hinaus karitativ und als Aktivensprecher sehr engagiert gewesen. Woher hast du die Energie dafür genommen?
Auch das ist intrinsische Motivation. Man braucht zum einen die körperlichen Voraussetzungen, Leistung bringen zu können, aber auch den Willen, das zu tun. In dieser Gemengelage braucht man den Tiger im Herzen, um sich durchzukämpfen und weiterzumachen. Aufgeben ist keine Option. Das hat im Sport schon zu dem einen oder anderen überraschenden Erfolg geführt, so auch bei mir. Zielstrebigkeit ist in meinem Herzen verankert. Ich möchte meine Ziele so effizient und schnell wie möglich erreichen. Es war eine Energieleistung, die einfach in meinem Körper drinsteckt. Heute versuche ich anderen Menschen von meinem Glück etwas zurückzugeben, speziell Kindern unter anderem über den Verein Förderturm e.V. im Essener Norden.

Energieleistung ist ein gutes Stichwort. Nach deinem Karriereende bist du im Marathon und Triathlon an den Start gegangen. Brauchst du den Reiz des Wettkampfs?
Du musst heutzutage zum Ende der Karriere den Körper von der Droge Sport entwöhnen. Das geht nicht von heute auf morgen. Ich sage gerne: „Dort, wo der Leistungssport anfängt, hört der gesunde Sport auf.“ Daher habe ich mich zum Karriereende kardiologisch begleiten lassen. Es stellte sich heraus, dass mein Herz größer und mein Herzmuskel dicker ist als bei anderen Menschen. Also sollte ich meinen Körper sukzessive entwöhnen, ausdauerleistungsmäßig etwas machen mit gewissen Belastungsspitzen.

Warum hast du die Sportart gewechselt?
Ich hatte einfach keine Lust, wieder ins Schwimmbad zu gehen und habe daher nach Alternativen gesucht. So bin ich zum Marathon gekommen. Die erste Laufeinheit war eine Katastrophe. Nach nur zehn Minuten hatte ich als Schwimmer einen Wadenkrampf und hatte drei Tage lang Muskelkater. Von meinen 90 Kilogramm Körpergewicht waren durch das Schwimmtraining 80 Prozent im Oberkörper und nur 20 Prozent in den Beinen. Das musste ausgeglichen werden, sonst lastet bei jedem Schritt das achtfache Gewicht auf Hüfte, Beinen, Knien und Füßen.

Und wie kamst du dann zum Triathlon?
Einmal habe ich für den Essener Herbstmarathon trainiert und musste zweimal um den Baldeneysee laufen. Ich bin im strömenden Regen gestartet und habe meinen Lauf im strömenden Regen beendet. Danach war für mich klar, dass ich das nicht noch einmal machen wollte. Ein guter Freund von mir ist Triathlet und ihm bin ich dann gefolgt. In den Anfängen habe ich die olympische Distanz bestritten und dann auch die Mitteldistanz. Dabei habe ich für mich gemerkt, dass mir eine vierstündige Belastung nicht liegt. Daher starte ich heutzutage nun nur noch in der Sprintdistanz.

Dem Schwimmen bleibst du weiterhin TV-Experte erhalten. Wie fühlt sich dieser „Seitenwechsel“ an?
Ich bin dem ZDF sehr dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, dem Zuschauer meine Lieblingssportart näherzubringen. Es tat schon weh, dass die deutschen Schwimmer 2012 in London und 2016 in Rio keine Medaille geholt haben. Das gab es 44 Jahre lang nicht. Es ist sehr schwierig, zu kommentieren, wenn der Erfolg ausbleibt. Dennoch weiß ich aus meiner eigenen Erfahrung als Sportler, wie schlimm es ist, wenn dann noch einer draufhaut. Es ist für einen selbst schon schlimm genug. Daher versuche ich, so objektiv wie möglich zu berichten, ehrlich zu sein, ohne verletzend zu werden. Umso schöner ist es, wenn man wie im letzten Jahr in Südkorea Florian Wellbrock im Wasser hat, der Weltmeister wird und man das kommentieren darf. Nun haben wir mit Florian Wellbrock, Sarah Köhler und hoffentlich auch mit Jessica Steiger wieder mehrere Athleten mit Medaillen-Chancen.

Wie sieht der Arbeitsalltag eines TV-Experten aus?
Man muss schon sagen, dass es harte Arbeit ist. Wenn man teilweise bis nachts gearbeitet hat, muss man morgens früh wieder in der Schwimmhalle sein, um die Vorläufe anzuschauen. Man hat wenig Schlaf, arbeitet teilweise 14 Stunden am Tag. Dabei die Dinge inhaltsstark und rhetorisch gut rüberzubringen, immer genau auf das Kamerabild abgestimmt, erfordert Fokus und Konzentration. Eine gewisse Leichtigkeit in der Moderation kann man nur dann transportieren, wenn man sich wirklich mit Akribie vorbereitet. Man muss Wettkämpfe und Zeiten aus dem Kopf abrufen können, um direkt eine Einordnung vornehmen zu können. Inzwischen mache ich das seit 15 Jahren fürs ZDF und weiß es sehr zu schätzen. Man ist in einer ausgebuchten Halle, hat die besten Plätze und kann kommentieren. Das macht bei aller Anstrengung viel Spaß. Daher drücke ich uns allen die Daumen, dass Tokio nächstes Jahr klappt.

Wie stehst du zu der Idee, Olympia 2032 nach Deutschland zu holen?
Anfang der 2000er Jahre ist es nicht gelungen. Aktuell gibt es ernsthafte Bestrebungen einer Privatinitiative um Sportmanager Michael Mronz, die Olympischen Spiele 2032 an Rhein und Ruhr zu holen – in eine Metropole, in die die Spiele hingehören. Die Menschen in NRW wollen Sport und ein Großereignis. Rund 80 Prozent der Sportstätten sind bereits vorhanden, weswegen das Thema nachhaltig und kostengünstig ist. Wir brauchen lediglich die Infrastruktur. Wenn die Spiele kommen würden, wäre das eine riesige Chance, das Ganze noch mehr anzuschieben: die innerstädtischen Verbindungen, den Ausbau der Autobahnen und des Nahverkehrs. Nachdem ich schon auf allen Kontinenten der Welt gewesen bin, wäre es Wahnsinn, Olympia vor der Tür zu erleben. Zudem wäre es eine riesige Chance für uns Deutsche, uns nach einer Fußball-Weltmeisterschaft weltoffen zu zeigen.

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